Gütersloh. Ist die Beschneidung kleiner Jungen aus religiösen Gründen unverzichtbares Ritual oder Körperverletzung? Dieser Frage widmete sich Prof. Dr. Rolf Wischnath in einem Gottesdienst am vergangenen Sonntagabend in der Martin-Luther-Kirche. Der Hintergrund: Im vergangenen Mai hatte das Kölner Landgericht die Beschneidung von Jungen aus rein religiösen Gründen als strafbare Körperverletzung gewertet und so lebhafte Diskussionen ausgelöst. Zahlreiche Interessierte verfolgten die halbstündige Lehrpredigt.
Zwischen 25 und 33 Prozent der männlichen Weltbevölkerung sind laut Wischnath beschnitten. Die Beschneidung sei der weltweit häufigste chirurgische Eingriff am männlichen Körper und werde meist aus religiösen oder kulturellen, aber auch aus medizinischen Gründen vorgenommen. Der Theologe schilderte Ablauf sowie religions- und kulturgeschichtlichen Hintergrund des Eingriffs. Entscheidend für die abrahamitischen Religionen sei der im Ersten Buch Mose 17, 10-14 überlieferte Befehl Gottes an Abraham, männliche Nachkommen im Alter von acht Tagen beschneiden zu lassen. Wer dies unterlasse, so Wischnath, „stellt sich im Selbstverständnis des Judentums außerhalb des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel.“ Obwohl der Koran die Beschneidung nicht explizit erwähne, betrachteten sie viele Muslime mit Berufung auf Abraham und Mohammed ebenfalls als verpflichtend. Im frühen Christentum habe sich Paulus – selbst beschnittener Judenchrist – gegen die Pflicht zur Beschneidung gewandt. Wischnath: „Gleichwohl kann gar nicht nachdrücklich genug darauf verwiesen und wiederholt werden, dass Jesus selber beschnitten war.“
Ausführlich erläuterte Wischnath den Hintergrund des Urteils des Kölner Landgerichts. Es hatte die Beschneidung eines vierjährigen muslimischen Jungen als Körperverletzung gewertet, den ausführenden Chirurgen Omar Kezze jedoch freigesprochen: Er habe nicht wissen können, dass er sich strafbar machte. Der Arzt kritisierte das Urteil als „beschämend und primitiv“, weil es Religionsfreiheit wie Elternrechte zu wenig berücksichtige. Kezze: „Es verletzt nicht nur Muslime, sondern auch die Juden.“
Wischnath erläuterte das juristische Dilemma der Abwägung verschiedener „Rechtsgüter“: Das Grundgesetz beinhalte sowohl das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2) als auch auf Glaubensfreiheit und ungestörte Religionsausübung (Artikel 4) sowie das Elternrecht auf Pflege und Erziehung der Kinder (Artikel 6). Jüdische Stimmen argumentierten, so der Prediger, das Ritual sei „seit fast 4000 Jahren elementar und konstitutiv für den jüdischen Glauben.“ Gerade Deutschland müsse sich fragen lassen, ob es als erstes Land die Beschneidung verbieten wolle. Auch muslimische Verbände beriefen sich auf ihre Tradition sowie auf das Erziehungsrecht der Eltern. Unbeschnittene Jungen würden zur „Zielscheibe des Spotts“. Medizinische Argumente für die Beschneidung seien eine verbesserte Hygiene sowie ein angeblich erhöhter Schutz vor Aids und anderen Krankheiten. Andererseits werde bei dem Eingriff ein Teil des Geschlechtsorgans samt seiner Schutzfunktion und Nervenverbindungen unwiederbringlich zerstört. Bereits Neugeborene verfügten über ein ausgeprägtes Schmerzgedächtnis, so dass infolge des – in der Regel ohne Betäubung vollzogenen – Rituals schwere Traumata entstehen könnten.
„Das Kölner Urteil ist vor allem für Ärzte enorm wichtig, weil diese jetzt zum ersten Mal Rechtssicherheit haben“, zitierte Wischnath den Passauer Strafrechtlicher Prof. Dr. Holm Putzke. Dieser hoffe darauf, die Entscheidung könne „auch bei den betroffenen Religionen zu einem Bewusstseinswandel führen, Grundrechte von Kindern zu respektieren.“ Stellvertretend für die Kirchen stellte Wischnath eine Pressemeldung der Deutschen Bischofskonferenz vor. Diese bezeichne das Urteil als „äußerst befremdlich“. Es sei ein „schwerwiegender Eingriff in Religionsfreiheit und Erziehungsrecht der Eltern“.
„Ich akzeptiere mit erheblichen Bedenken die religiöse Praxis der Beschneidung in den beiden Schwesterreligionen Judentum und Islam“, nahm Wischnath persönlich Stellung. Zugleich ersuchte er um Respekt dafür, „dass das Christentum eine Forderung der Beschneidung nicht erhebt, ja sie im Anschluss an den Apostel Paulus ausdrücklich ablehnt.“ Für Wischnath unverzichtbar: Nur chirurgisch ausgebildete Ärzte oder Beschneider sollten den Eingriff durchführen. Unter allen Umständen sei während des Eingriffs wie danach Schmerzfreiheit zu gewährleisten.
kj